Kaschnitz, Marie Luise: Jeder
Jeder (German)für Erich Kaufmann
Jeder muss einmal Sein Vaterland besingen, Sein Nest beschmutzen. Auch ich. Die Heimat, dieses kleine Stück Europa, Wo Mädchen Soldaten nicht mehr lieben, Wo Soldaten sich selbst nicht mehr lieben. Wie befremdlich.
Was fällt mir ein, wenn ich Deutschland sage? Mein Weg zur Arbeit Durch den Park von Weimar. Das grüne Herz. Flieder im Belvedere. Tiefurt. Stampfender Tanz. Der Bauhausschüler. Triadisches Ballett.
Was noch fällt mir ein? Die Tiefebene sommerlich. Und hinter den breiten Hügeln Auftauchend Türme. Die Weichsel bei Hochwasser. Rasch hintreibende Dächer. Bäume entwurzelte. Auch der Niederrhein.
Xanten, der angetriebene Leichnam. Der große Himmel. Meine Heimat vor allem. Nussbäume, Linden unterm Gewitterhimmel. Weinfässer zum Schwefeln vor die Häuser gestellt. Doppeladler im Wappen Oleander.
Was außerdem? Hakenkreuzfahnen, Dröhnende Stiefelschritte, Geflüstertes Grauen. Züge entlang dem Lahnfluss voll Nicht singender Soldaten. Judenzüge. Detonationen. Christbäume sogenannte. Asche zu Asche.
Dann alles wieder neu Aus dem Boden gezogen. Hochhäuser, Hochöfen, Hochstädte, Autobahnen. Ferien im Ausland. Alte Kameraden. Weihestimmung im Bachverein.
Und doch, mein Jahrhundert vorüber, Wird mit Stacheldrahtzäunen Niemand mehr Geld verdienen. Diesseits und jenseits der Grenzen Bedeuten Worte dasselbe Vaterländer und die alten Schuldgefühle haben ausgespielt.
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