Paula Becker an Rainer Maria Rilke, 1906
Rainer, lieber Freund, ich kann
heut Nacht nicht schlafen — will nicht schlafen.
Ich bin am Anprobieren der Kleider,
der Abendkleider
und Unterkleider
aus Seide,
die du mir aussuchen halfst
gestern im Laden —
Die Pakete kamen heute Morgen an.
Blau- und Grüntöne,
die glitzern, als wären sie
ständig nass —
Solche vor Liebe,
Reife glühenden Rottöne —
Ich werde mich in diesen Kleidern,
diesen Reichtümern von Koré in Erinnerung behalten —
unirdische Farben — Schmuckstücke,
die ich niemals bezahlen könnte.
Morgen
werde ich alles zurückschicken.
Aber heute Nacht
gehört alles mir —
vielleicht schlafe ich sogar in Seide —
Ich gehe vor dem Spiegel hin und her
und denke an unseren
gemeinsamen Abend zurück —
Dein einfaches, fleischloses Mahl,
das du mit mir geteilt hast —
Und danach die Erdbeeren —
Ich fühlte mich so rein, so frei — mit dir als Beobachter,
während ich dich beobachtete —
Deine kleinen Hände
fand ich schon immer so anrührend —
Du warst lieb und blass, deine Haut
roch nach Mandeln —
Wie du von Italien sprachst —
von Florenz, Capri — Wie du
von einer Reise sprachst,
die wir zusammen machen sollten —
Ich unterbrach dich nur, um zu sagen: mit Clara,
mit Clara, lass uns wieder zu dritt sein —
Und während ich
deinen Geschichten zuhörte,
erinnerte ich mich an den Geruch frischer Zitronen,
vor allem der Blätter
mit ihrem so anderen Duft,
mit ihrem rauen dunklen Grün,
sanfter durch jenen Duft —