Lipson, Katri: Der Eisverkäufer (Jäätelökauppias (detail) in German)
Jäätelökauppias (detail) (Finnish)I
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Der Eisverkäufer (German)Ich bestand darauf, das Drehbuch zu sehen. Der Regisseur wies auf seinen Kopf: Einzig und allein dort sei es zu finden. Ich beharrte auf meiner Forderung. Er nahm Stift und Zettel zur Hand und kritzelte einige Zeilen absichtlich in so schlechter Handschrift, dass ich nichts anderes entziffern konnte als drei Punkte am Ende des letzten Satzes. Ich sagte sofort: „Sie verlieben sich also.“ „Warum das?“ Er nahm den Zettel wieder an sich und runzelte die Stirn: „Sieh an, drei Punkte …“ Was sollen wir mit einem Drehbuch? Ich begreife es, als ich auf dem Sofa des Hotels Vollmond unter ihm liege. Ein gemaltes Ornament an der Wandbordüre des Zimmers offenbart, dass Mysterien nicht existieren; alles ist dermaßen ungelenk und durchschaubar, dass man sich für Gott schämen muss und die Menschen einem leidtun. Gestern waren alle wütend auf mich. Die Feuerwehr war mit heulenden Sirenen angekommen. Ein furchtbarer Aufruhr: „Wo brennt es?“ – „Nirgends.“ – „Das ist schon das dritte Mal.“ – „Was ist hier denn schon wieder los?“ – „Fräulein Zachovalová hat den Alarm ausgelöst, bevor wir etwas dagegen tun konnten.“ – „Wir haben Besseres zu tun, als immer wieder grundlos hier aufzutauchen.“ Vergebens versuchte ich mich zu verteidigen: „Aber es riecht hier verbrannt! Merkt das denn niemand außer mir?“ Sie machten sich nicht einmal die Mühe, die Stromleitungen zu kontrollieren. Ich betrachtete ihre Helme. Deren Dellen mochten gut und gerne aus dem Krimkrieg stammen. Sie wollten schon wieder gehen. Aber ich verlangte von ihnen, alles zu überprüfen. Der Regisseur sagte: „Jetzt kommen wir bitte alle mal zur Ruhe.“ Und die Feuerwehr: „Das Fräulein Zachovalová sieht es bestimmt ein: Wenn so etwas zu oft vorkommt und dann wirklich Not am Mann ist, hat niemand mehr Lust, auszurücken …“ Dann sollen sie doch zur Hölle fahren! Da brennt es wenigstens wirklich! Daran ist absolut nichts unklar! Irgendjemand will mich ärgern. Irgendjemand weiß, dass ich auf der ganzen Welt nur vor zwei Dingen Angst habe: Mittelmäßigkeit und Feuer. Und die Angst vor Feuer hat nichts Mittelmäßiges! Als ich in die Garderobe kam, hatte jemand dort ganz sicher Streichhölzer abgebrannt. Eine ganze Schachtel. Mit voller Absicht. Wer tut so was? Niemand, versicherte mir der Regisseur. Ich sah im Mülleimer nach: nichts. Aber wenn Streichhölzer abbrennen, verschwinden sie doch nicht völlig, sondern sie verkohlen. Warum lagen sie dann nicht im Mülleimer? Oder auf dem Fußboden? Nirgends. Es wird sie doch niemand in die Tasche stecken? Es sei denn, er will mich ärgern, ohne dass davon Spuren zurückbleiben. Der Regisseur meinte: Vielleicht hat jemand dort eine Zigarette geraucht. Aber das waren keine Zigaretten, die man da gerochen hat. Ich weiß ganz genau, was da gerochen hat. Heute ich und Martin Jelínek. Zum ersten Mal. Eine ganze Stunde lange haben wir den Text durchgeackert, zuerst vom Blatt, dann ohne:
Immer wieder kam Martin durcheinander. Er war ziemlich nervös. Es war unser erstes Mal. Er hatte von mir gehört. Aber ich hatte noch viel mehr von ihm gehört.
„Ich sagte doch Tscheche.“
Dann begannen wir von vorn. Nach dem fünften Mal eine kleine Variation:
Dann machten wir mit den Kindern weiter:
Martin schweigt und starrt auf das Blatt. „Hier steht ‚Tomáš Vorszda‘.“ „Wo?“ „Steht bei dir nicht ‚Tomáš Vorszda‘?“ „Doch.“ „Müsstest du dann nicht ‚Tomáš Vorszda‘ sagen?“ Er sieht nicht mich an, sondern den Regisseur. Der sagt plötzlich: „Eigentlich ist die Idee von Fräulein Zachovalová besser.“ Er reißt uns die Zettel aus der Hand, streicht etwas durch, schreibt etwas dazu. „So, noch mal von vorn.“
Pause. Sie fällt zu lang aus, aber Martin braucht nur zu warten, denn auch die nächste Dialogzeile ist meine.
Stille. Eine dritte Stimme im Raum: - Hier jedenfalls nicht. Esther und Tomáš Vorszda fliehen. Ich bin Esther. Martin ist Tomáš. Im Auto sitzt noch ein anderer Mann, aber er ist nicht von Bedeutung, außer dass er das Auto steuert, in dem wir fliehen. Wir fahren durch Felder, es ist heller Tag und furchtbar heiß. Die Landschaft wird hügeliger, Nadelbäume, Kurven. Keine Dialoge. Wir kommen in ein kleines Dorf mit einem Bahnhof. Der erste Dialog. Wir müssten eigentlich weiterfahren, aber etwas ist passiert. Esther ist übel, Tomáš zweifelt, der Fahrer will eine schnelle Lösung. Dann gehen Esther und Tomáš zu Fuß weiter, einen Sandweg entlang. Das Tragen von Koffern. Die von Tomáš sind unfassbar schwer, Esthers leicht. Ich bin Esther. Martin ist Tomáš. Esther geht hinter Tomáš her. Der Regisseur fordert mich auf, Tomáš anzusehen. Ich sehe ihn an, aber der Regisseur ruft: „Sieh Tomáš an!“ Sie filmen mein Gesicht, damit alle sehen, wie Esther Tomáš ansieht. Martin ist Tomáš, aber ich sehe nur Martin. Ich sehe Martin von hinten, den Rücken im weißen Hemd, die dunkle Hose, den Nacken, die Haare. Der einzige Gedanke in meinem Kopf: Warum ist das Hemd immer noch so weiß? Die Szenen werden in chronologischer Reihenfolge gedreht. Der Regisseur muss es so machen, damit wir nicht in die Zukunft sehen können. Seit wir zum Drehort gekommen sind, habe ich ein Auge auf ihn. Ich notiere mir alles. Der Regisseur „schlendert“ um das Haus herum, „hockt“ lange neben dem Sägebock, „steht wie angewachsen“ neben der Regentonne. Geht mit Martin in den Schuppen. Sie kommen heraus, Martin mit einer Säge in der Hand. Der Regisseur betrachtet die Säge zufrieden, obwohl sie ganz rostig ist. Als wir vor dem Haus von Frau Nĕmcová stehen und die schöne Gebirgslandschaft bestaunen, sage ich provozierend: „Zum Glück gibt es immerhin die Berge. Sie stehen seit Tausenden von Jahren da. Und zum Glück kann man daran gar nichts ändern …“ Der Regisseur nickt einfach nur, als hätte das nichts mit ihm zu tun. Ich ging in den Schuppen. Schimmlig stinkendes Zwielicht. Es gab dort nur verrostetes Werkzeug. Martin warf einen Blick herein. Ich weiß nicht, was über mich kam. Ich sagte zu ihm: - Tomáš, jetzt nicht mehr … Und Martin erwiderte sofort: - Wenn du es bei mir nicht schaffst, wie willst du es bei ihnen schaffen? Wie ein Messer in den Schoß, die Worte strahlten bis in die Oberschenkel aus. Dann ein kurzes Lächeln und das Verschwinden zurück ins Licht des Türspalts.
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