Glavan, Polona: Nachts in Europa (Noč v Evropi (detail) in German)
Noč v Evropi (detail) (Sloven)Prvič
|
Nachts in Europa (German)An einem Mittwoch, überlegte Andrinne. Ich werde an einem Mittwoch sterben. Es war Mittwoch und alles lief schief. Im Camp waren sie spät dran gewesen. Der Bus war spät dran gewesen. Die U-Bahn war spät dran gewesen. Alles war spät dran und sie mussten pünktlich sein. Sie musste rennen. Sie hatte keine Lust zu rennen. „Wo sind wir?“, röchelte sie in den ruhigen, erhitzten Augustabend hinein. „Fast da“, antwortete Christian knapp, ohne sich umzudrehen. Paris dampfte trotz der Dämmerung, die sich herabgelassen hatte, aus jedem Riss im Asphalt. Die Menschen bewegten sich langsam, so schien es zumindest aus ihrer atemlosen, fliehenden Perspektive. Andrinne biss die Zähne zusammen und umklammerte die breiten Träger ihres Rucksacks. Der Schweiß rann ihr über die Stirn und tropfte ihr von den Augenbrauen auf die Lider. Sie streckte die Zunge heraus. Die Luft schmeckte salzig, quietschend. „Wie lange noch?“, schnaufte sie und dachte, verflucht, wenn er jetzt wieder um die nächste Ecke sagt, gehe ich keinen Schritt weiter. Ihre Sandalen waren nass, an ihren Füßen erahnte sie Blasen, die sie in Amsterdam zählen würde. In Amsterdam. Wenn überhaupt. Christian sagte nichts. Sein Rücken bewegte sich vor ihr rhythmisch auf und ab. Er war höchstens zwei Meter entfernt, und doch schien es, als könnte sie ihn niemals einholen. „Verdammte Scheiße, wie lange noch?“, schrie sie. „Kannst du mir antworten, bitte?“ „Wir sind da, wenn ich es sage“, knurrte Christian. „Eine Minute, zwei. Wenn du vorhast, zu nerven, werden wir ihn sowieso verpassen.“ Andrinne biss die Zähne zusammen. „Müssen wir denn überhaupt in dieses verfluchte Amsterdam?“, stöhnte sie. „Wir könnten noch ein bisschen hier bleiben. Wir haben ja so oder so Zeit.“ Christian warf einen kurzen Blick über die Schulter. „Wir waren so oder so zu lange in dieser beschissenen Stadt“, brüllte er. „Zwei Tage länger, als wir vorhatten, wenn du dich erinnerst. Und zwar auf deinen exklusiven Wunsch hin. Ich meine …“ Er holte Luft. Die Häuser zogen langsam an ihnen vorüber. Zu langsam. „Ich meine, was ist denn so besonders hier? Zu teuer, zu heiß und zu voll. Japaner, wo man hinsieht. Arrogante Einheimische, geschmackloses Bier, das Camp unter aller Sau. Ein Traum, echt.“ Hinter seinem Rücken schnitt Andrinne eine Grimasse. „Gott sei Dank sind es Japaner und keine Norweger“, zischte sie, schon am Ende ihrer Kräfte. „In dem Fall würde ich wirklich nur zu gerne meine Sachen packen.“ Christian gab sich Mühe, sie zu überhören, und sah auf die Uhr. Noch zwei Minuten, bis der Zug abfuhr. „Wo ist er denn jetzt, dein Bahnhof?“, ächzte Andrinne. „Schon seit hundert Jahren liegt er gleich um die nächste Ecke.“ „Halt doch die Klappe!“, explodierte Christian. „Ist es etwa meine Schuld, dass die U-Bahnen Verspätung haben? Beschwer dich bei Chirac, nicht bei mir, Schätzchen.“ Andrinne öffnete den Mund, doch die Hitze hatte ihr die Zunge an den Gaumen geklebt. Dafür hatten sie später noch genug Zeit. Die ganze Nacht, wo auch immer diese vergehen sollte. Wenn ich nicht vorher sterbe, dachte sie. Im Grunde war sie erstaunt, dass sie bis jetzt durchgehalten hatte. Und dann erschien er doch, der Gare du Nord. Er war still und leise zwischen den Häusern aufgetaucht, grau, riesengroß, perforiert von riesigen Glasfenstern, in denen sich das Licht der Straßenlaternen spiegelte. Christian packte Andrinne an der Hand, und sie liefen vorbei an den dicht gedrängten Autos, den herumstehenden Bettlern und den Muslimas, die kleine, dunkeläugige Kinder in Gepäckwagen herumkutschierten. Der Zug stand am Bahnsteig und die letzten Passagiere in kurzen Hosen und Flip-Flops stiegen ein, und so gut wie alle waren beladen mit riesigen Rucksäcken. Sie liefen an den Plattformen vorbei, noch eine halbe Minute, fünfzehn Sekunden, Andrinnes Knie gaben nach, der Schweiß rann ihr über den Rücken und ihre Fesseln waren wie Kugellager, die am Ende ihrer Leistungsfähigkeit rhythmisch durchhalten, durchhalten, durchhalten wiederholten. Ich hasse Amsterdam, dachte sie noch, und dann waren sie auch schon da. Zum Glück. Christian stieß sie in den Zug, nachdem dieser sich schon in Bewegung gesetzt hatte, und erwischte selbst noch im letzten Moment das Geländer. Andrinne ging neben der Tür zu Boden und rang schwer nach Luft. Meine Lunge, dachte sie, wo zum Teufel habe ich meine Lunge gelassen? Ihr Herz hämmerte gegen die Rippen, als würde es jeden Augenblick durchbrechen, sich losreißen und den Gang entlang zwischen den Abteilen davonfliegen. Man wird es mir stehlen, dachte sie und schaffte es, zu lächeln. Von ihren Füßen strahlte ein hämmernder Schmerz in ihre Knöchel. Christian setzte sich auf seinen Rucksack und sank mit ausgestreckten Armen über seinen Füßen zusammen, die in schmutzig weißen Converse steckten. Die Flasche, durchfuhr es sie, er hat die Flasche verloren. Ihre Hände zitterten vor Panik. Er hat die Flasche ganz bestimmt verloren, sie ist ihm beim Laufen aus der Seitentasche gefallen und zwischen die Zigarettenstummel unter den Bordstein gekullert, das Wasser ist dort geblieben, halb verdunstet, und wir beide werden auf der Fahrt in dieses verfluchte Amsterdam verdursten. Sie blickte zu Christian. „Die Flasche“, röchelte sie. „Das Wasser.“ Christian hob leicht den Kopf. Er nickte und griff nach der Seitentasche seines Rucksacks, öffnete den Reißverschluss und zog eine fast volle Flasche Evian hervor. Andrinne riss sie ihm aus der Hand und lachte vor Erleichterung in sich hinein. Sie trank in kurzen, noch immer atemlosen Schlucken. Das Wasser troff ihr vom Kinn, sodass ihr T-Shirt in Brusthöhe nass wurde. Sie setzte die Flasche ab und reichte sie Christian. „Wir haben Wasser“, sagte sie und versuchte zu lächeln. „Das wird schon irgendwie, oder?"
Giordano presste die Unterarme flach gegen das Glas und ließ seine Stirn zwischen den Ellbogen herabhängen, sodass sie sacht die mit Fingerabdrücken übersäte Oberfläche berührte. Der Zug aus Marseille war staubig und schweißdurchtränkt gewesen, als könne die Klimaanlage nicht dorthin dringen, wo sie am dringendsten gebraucht wurde, zum dunstigen, schweren Atem der Backpacker, der durchnässten Greise und ihrer runzligen Frauen, die ihre Plastiktüten ängstlich ganz nah zu ihren Füßen stellten. Hier war es zum Glück anders. Die Pariser Vorstädte erleuchteten flüchtig die warme Abenddämmerung, und die Ferne versprach, jeden Moment wieder neue Hoffnungen zu erwecken. Das war schließlich ihre einzige Aufgabe. Die Hoffnung. Noch vor Stunden hatte stattdessen die Hoffnungslosigkeit geherrscht, die Reglosigkeit der stehenden Hitze, die hinter den Häusern, wo sich die Eisenbahn in Luft auflöste, eine Wand hochzog, die vermutlich für immer undurchdringbar bleiben würde. Dort hatte Giordano die Augen geschlossen und den Kopf gesenkt, vor der Wand, dem ersten Schritt des zwangsläufigen Vergessens. Etwas Rituelles lag darin, in der Dunkelheit, die er trotz der blassen Sonne hinter seinen Lidern zu potenzieren versuchte und aus der Azras schmale Fesseln verspielt, beinahe kindlich hervortraten. Azra mit den schmalen Fesseln und den sonnenverbrannten Schultern. Hinter der Wand. Dort irgendwo. Azura, wie er sie nannte, groß wie der Südhimmel und mysteriös wie Sibirien, obwohl er etwas von ihr wusste, zumindest das Wichtigste. Das darfst du nicht, Gio. Wir dürfen nicht. Damals war Marseille die große, strahlende Wirklichkeit gewesen, hinter der es nichts gab, die mit dreckigem Asphalt gepflasterte Wirklichkeit, über den die Matrosen glitten und den Mädchen mit gewohntem Nachdruck hinterhersahen. Gio. Wir dürfen nicht. Als sie es aussprach, erzitterte auf dem Grund ihrer Stimme ein Schmerz, sie sah verstohlen um sich, um sie beide, ein Schmerz, den sie wahrscheinlich von zu Hause mitgebracht hatte, aus dem kleinen Dorf in den bosnischen Alpen, das es schon seit drei Jahren nicht mehr gab. Vor dem Fenster glitt die Dämmerung in eine klare, blaue Dunkelheit ab. Pariser Blau, dachte Giordano, wahrscheinlich ist das damit gemeint. Matte Nuancen des Nordens, der mit Ernsthaftigkeit versucht, die Lebenslust des Südens niederzuschreien, die Gerüche, die Farben, den Azur. Azur. Er schüttelte den Kopf. Diego hätte sich an die Stirn getippt, hätte er auch nur nur einen Mucks von sich gegeben, und Simone hätte diesen sprichwörtlich ungläubigen Gesichtsausdruck gekriegt. Liebe … Moment mal, platonische? Aus welcher Zeit bist du denn gefallen, Mann, aus dem Mittelalter? In Amsterdam lebten sie in Saus und Braus, er sah sie bildlich vor sich, wie sie sich aus dem Bett schnurstracks in den nächsten Coffeeshop verlagerten und von dort aus ins Rotlichtviertel, um sich die Nasen an einer dicken Scheibe platt zu drücken, egal welcher, Diego hatte bestimmt die Hälfte der Frauen im Hostel flachgelegt, und Simone hatte sich das Haus von Anne Frank angesehen, aus Pflichtbewusstsein, weil sein Großvater Jude war. Und du, Gio, was hast du so getrieben? Nichts, Schiffe beobachtet. Ah ja, Schiffe. Du warst immer schon ein kleiner Freak, Alter. Und Azra hätte gelacht, hätte sich in ihrer traurigen, verschlungenen Sprache an die Schultern gegriffen, die sonnenverbrannten Schultern, den siebenten Café au Lait vor ihn hingestellt, worauf er ihr instinktiv in den Ausschnitt geschielt und sie gelacht hätte, mit ihren Schultern, wie damals, als er schließlich gesagt hatte, eigentlich habe ich nur deswegen den ganzen Nachmittag hier zugebracht, weil ich mich gern ein bisschen mit dir unterhalten möchte. Das Geräusch der Schiebetür, die gegen den Rahmen schlug, weckte ihn. Giordano drehte sich ruckartig um, als hätte man ihn bei etwas Verbotenem erwischt. Als hätte er ihn erwischt, schoss es ihm durch den Kopf. Dann spürte er die Wirklichkeit unter seinen Füßen. Er war hinter der Wand, im Zug nach Amsterdam. Er hatte Gesellschaft bekommen. Zumindest sah es danach aus. In der Tür stand ein blondes Pärchen, beide mit kurzen Haaren. Sie waren verschwitzt, trugen Sandalen, ihr Gesichter waren gerötet und die Sonne offensichtlich nicht gewöhnt. Von irgendwo hoch oben, schätzte Giordano. Auch ohne Rucksäcke hätten sie nichts anderes sein können als zwei Studenten mit ein paar Reiseschecks und einem Interrailticket in der Tasche. „Ist hier noch frei?“, fragte das Mädchen mit kantigem Akzent. Sie war hochgeschossen und schmächtig. Das weiße T-Shirt klebte an ihren Schultern. Giordano blickte zum Rucksack, der auf der Gepäckablage über seinem Kopf lag. Er nickte. Das Mädchen lächelte, und ihre durchscheinenden grauen Augen blitzten müde auf. Der Junge nickte Giordano zu und stieß den Rucksack von seinen Schultern. Giordano nickte erneut, zog seine Zigaretten aus der Tasche und ging auf den Gang hinaus. Andrinne breitete sich mit einem zufriedenen Seufzer im Sitz aus. Der Zug raste bereits mit voller Geschwindigkeit durch die verdunkelte Landschaft, seine Bewegung erweckte den sicheren, vibrierenden Eindruck von Behaglichkeit. Andrinne sah durch die Abteiltür auf den Gang. Niemand zu sehen, nicht mal zu hören. Lautes, amerikanisches Geplapper und ein schwerfälliges, spanisches Lied blieben hinter den verschlossenen Türen der anderen Abteile. Andrinne streifte die Schuhe von den Füßen und streckte ihren Rücken durch. Sie sah zu Christian, der seinen Rucksack pedantisch auf der Ablage platzierte. Die Muskeln unter dem Saum seiner kurzen Hose waren zum Bersten gespannt. Andrinne spürte einen Anflug von Stolz, ein wenig Eitelkeit, die ihre Lippen zu einem Lächeln verzog. „Lass das“, sagte sie. „Er fällt schon nicht runter.“ „Sicherheitsvorkehrungen“, erklärte Christian, ohne den Blick vom Rucksack zu lösen. „Du weißt ja, wie das ist. Nachtzüge und so.“ „Es wird dir schon niemand deinen stinknormalen Rucksack klauen“, sagte Andrinne. „Wer hat denn schon Bock, das Ding durch die Gegend zu schleppen. Steck dir den Geldbeutel hinter den Gürtel und damit hat sich’s.“ „Hier ist es anders“, erwiderte Christian. „Die klauen hier wie die Raben. Denk dran, was Kjetil passiert ist.“ „Kjetil ist ein Idiot“, schnaubte Andrinne. „Blind wie ein Maulwurf. Ich glaube, die haben ihm das verdammte Ding direkt von den Schultern gestohlen, und er hat’s erst am nächsten Morgen gemerkt.“ „Vorbeugen ist besser als heilen“, sagte Christian und machte unbeirrt weiter. „Hat das etwa auch Kjetil gesagt?“ „Nein, Hippokrates. Glaub ich.“ Andrinne lachte auf. „Wir sind ja zu zweit“, warf sie ein. „Das schaffen wir schon. Wenn dein Rucksack geklaut wird, musst du eben meine Kleider tragen. In Amsterdam ist das schließlich nichts Besonderes, nicht wahr?“ Christian lächelte, das erste Mal, seit sie den Campingplatz in Bois de Boulogne verlassen hatten. Er sah sie neckisch an. „Diesen gepunkteten Rock ziehe ich dir zwar gerne aus“, sagte er, „aber anziehen möchte ich ihn dann doch lieber nicht.“ Andrinne lachte glucksend. „Würdest du mir das denn nicht gönnen? Dass ich ihn dir auch einmal runterziehen darf?“ Christian ließ vom Rucksack ab, wischte sich die Hände an der Hose ab und nahm neben Andrinne Platz. Er legte den Arm um ihre Schultern. Vor dem Fenster floss die Nacht regungslos vorbei. „Wann sind wir in Amsterdam?“, fragte er. „Um sechs, halb sieben?“ „Ein bisschen später“, sagte Andrinne. „Ich glaube, so gegen sieben.“ „Neun Stunden“, murmelte Christian. „Ein schönes Stück. Vielleicht können wir ja sogar ausschlafen.“ Andrinne rutschte im Sitz hin und her und strich Christian mit dem Handrücken über die Wange. „Paris war doch nicht so schlecht, oder?“, fragte sie mit tiefer Stimme. „Unterm Strich hatten wir eine ziemlich gute Zeit.“ Die Hoffnung ließ ihre Stimme ein wenig kieksen. Christian nickte langsam. „Der Louvre war zu teuer“, sagte er, „und der Eiffelturm wird definitiv überbewertet. Das Quartier Latin ist kommerziell bis zum Gehtnichtmehr. Aber sonst ist die Stadt okay.“ „Hauptsache, sie ist okay“, seufzte Andrinne. „Übrigens, was wollen wir in Amsterdam eigentlich machen?“ „Einen Schlafplatz finden“, schlug Christian vor. „Das wird das größte Problem.“ „Ach, vergiss das“, entgegnete Andrinne. „Die Technik zählt nicht. Ich meine danach – wenn wir erst mal dort sind, wirklich dort.“ „Wir werden einen Laden suchen und Frühstück besorgen“, antwortete er. „Bis dahin hab ich bestimmt einen Bärenhunger. Vielleicht gehen wir einfach in den nächsten McDonald’s, was meinst du? Jeder Bahnhof hat einen.“ „Mach keine Witze“, sagte Andrinne. „Willst du etwa nach Amsterdam, um zu essen?“ Die Abteiltür quietschte. Giordano trat zögernd, beinahe schüchtern ein. Andrinne und Christian sahen ihn gleichzeitig an. Andrinne lächelte instinktiv, Giordano erwiderte das Lächeln. Er beobachtete aus dem Augenwinkel, wie sie nebeneinander saßen. Nervosität und Unbehagen, ausgelöst durch die plötzliche Anwesenheit eines Dritten, das hätte jeder sofort gemerkt, auch ohne Psychologiestudium. Skandinavier, sie waren definitiv Skandinavier, Schweden, Dänen, Norweger. Ihre komischen, hüpfenden Sprachen konnte er ohnehin nicht unterscheiden. Die reden dort oben ja überhaupt nicht, hatte Lucia einmal gesagt, vor der Uni oder einer Kathedrale oder wo auch immer das war, den Sommer davor war sie in Schweden gewesen und sprach die ganze Zeit davon, sie reden nicht, Gio, stell dir vor, sondern gehen nur aneinander vorbei, ihre Hand mit der Zigarette zeichnete dabei einen Kreis in der Luft, und in der Nähe ertönte eine Sirene, das sechste Mal diesen Morgen, die Philosophin Lucia mit den schwingenden Brüsten, zweidimensional wie eine Kinderzeichnung, würdest du das aushalten, Gio, sag schon, sie sah ihn von unten an, mit schief gelegtem Kopf, sie versuchte ihn zu verführen, und er überlegte, wie er sie loswerden könnte. Er blickte zu dem Pärchen, das entspannt aus dem Fenster starrte. Die reden tatsächlich nicht, Lucia. Zumindest diesmal muss ich dir recht geben. Er dachte zum ersten Mal an sie, zum ersten Mal seit Marseille, wenn nicht sogar Mailand. Er hatte ihr nicht gesagt, dass er verreiste, warum sollte er auch. Schließlich war sie diejenige, die aus jener Nacht bei Marc zwanghaft mehr machen wollte. Hatte er ihr jemals geradeheraus gesagt, dass es nicht geht, dass sie sich einen Besseren suchen soll, dass er nur ein bisschen allein sein wollte? Er wühlte in seinen Erinnerungen, doch dieser Vorfall, wenn er denn überhaupt jemals stattgefunden hatte, wollte ihm partout nicht einfallen. Er seufzte in sich hinein. Du bist ein Bastard, Gio, ein Bastard. Ja – und was gibt’s sonst Neues? Er beugte sich zu dem kleinen Rucksack, in dem er das Nötigste lagerte, wühlte sich zwischen einer Flasche Fanta und mehreren Paaren Socken durch, die wer weiß wann dort gelandet waren, und zog ein weißes Spiralheft hervor. Der Einband war leicht schmutzig. Reisetagebuch stand darauf, und etwas weiter unten: Solltest du der glückliche Finder sein, schick es bitte aus sentimentalen Gründen an den und den an die unten stehende Adresse. Ein Bier pro Seite, Ehrenwort. Den letzten Satz hatte Diego dazugeschrieben, am Abend vor der Abreise waren sie zu dritt auf ein Bier gegangen, und Giordano hatte im letzten Moment verhindern können, dass er anfügte: Wenn du ein Mädchen bist, meld dich lieber bei mir, hab mehr zu bieten. Das schien Jahrhunderte her, doch das erste Datum reichte kaum zwei Wochen zurück. Ventimiglia stand da, und: Giordano geht in die große, weite Welt. Hinter ihm lagen ein Tag in Nizza, danach Lyon und ein paar Tage Avignon, wo er gerade rechtzeitig zu einem Festival gekommen war. Seine Hand hielt zaghaft am Seitenrand inne, bevor er umblätterte. Er wollte den Namen nicht noch einmal sehen, so sehen, wie er ihn das erste Mal gesehen hatte. Marseille, in großen, leicht nach links geneigten Blockbuchstaben. Elf Uhr fünfundfünfzig. Ein aufgeheizter Granitblock, leicht wie eine Feder war das Erste und so gut wie Einzige, was er geschrieben hatte. Pathetisch bis zum Erbrechen. Aber damals noch das Beste, was ihm eingefallen war. Es folgten ein paar Stehsätze darüber, wie verworren die mediterranen Gassen sind und dass das Hotel wie nach Vorschrift in der schattigsten und abgelegensten liegt. Und am Schluss: Genug philosophiert, auf zum Schiffebeobachten. Es folgten gähnend leere, linierte Seiten, und gähnend leer waren auch die hell gestrichenen Tische nahe dem Hafen, kein Fleckchen oder Abglanz, nur die gleißend helle Sonne, die sich feierlich von den Schiffsbäuchen am Horizont widerspiegelte. Und aus diesem Weiß trat schließlich sie hervor, er sah ihre Hüften, wie sie in seine Richtung schaukelten, mit einer Verführungskunst, die nicht einstudiert schien, und erst, als sie sich über den Tisch zu ihm beugte, blickte er ihr ins Gesicht, in dieses Lächeln, das typisch war für Kellnerinnen in billigen Bars, dieses Lächeln, das sagte, Tach, was darf’s sein? und sich über eine kräftige, weiße Zahnreihe ausbreitete. Er war nichts Besonderes, damals. Erst nach mehreren Stunden und Tagen begann sich in ihm immer deutlicher eine Welt abzuzeichnen. Die Sitznachbarn ihm gegenüber waren mittlerweile in ein halblautes Gespräch verwickelt. Ihre Worte drangen nur schemenhaft zu ihm herüber. Giordano schielte unwillkürlich über den Heftrand. Das Mädchen saß am Arm aufgestützt und zum Jungen geneigt da und redete auf ihn ein. Der Junge sah kurz zu Giordano und dann wieder zu ihr. Unbewusst, dachte Giordano. Er senkte den Blick auf die Seiten. Sollte hier etwas stehen? Ciao, Giordano hier. Ich melde mich aus dem Nachtzug Paris–Amsterdam, das Wetter ist schön, wir sind bald in Belgien. Nein, eigentlich habe ich keine Ahnung, wo wir sind. Er schüttelte den Kopf. Vielleicht sollte er dort weitermachen, wo er aufgehört hatte, so tun, als wäre dazwischen keine halbe, in fünf Tage gepresste Ewigkeit vergangen. Die Menschen sind in Ordnung, die Schiffe ebenfalls. Ich habe jemanden kennengelernt. Sie heißt Azra und ist vor drei Jahren aus Bosnien hierhergekommen. Sie ist interessant. Nicht schön, interessant. Das war ein Relikt aus einer Zeit, als er mit Leuten verkehrt hatte, die von den großen Dingen sprachen und den Blick zum Himmel richteten, manchmal zu Boden, aber niemals dazwischen. Sie vertrieben sich die Abende in Bars in der Nähe der Uni und diskutierten über Camus und das Elementare der Dritten Welt, als würden sie jemals den Mut aufbringen, sie zu betreten. Sie fanden Frauen interessant. Als würde Schönheit nicht existieren, auf gewisse Art und Weise hatten sie sie verbannt, wie bei Kundera. Absolutheit, Giordano. Er wünschte, er hätte sich viel eher von ihnen losgerissen, nach etwa zwei Jahren hatte er die Nase voll gehabt und beschlossen, erwachsen zu werden, für sich, ohne Zugehörigkeit, mit dem Kind erwachsen zu werden, das noch irgendwo in ihm pulsierte und sagte, schönes Gesicht schöne Brüste schöne Fesseln, schön schön schön, hässlicher Himmel, nachdenklicher Baum, komische Worte. Und dann was? Das Datum des nächsten Tages und des übernächsten, Azra sagt, wir dürfen nicht. Sie hat jemanden, der sich um sie kümmert. Azra sagt, sie arbeitet nur saisonal, wer sie denn danach versorgen soll. Ihre Eltern sind tot. Sagt Azra. Sie hat so schöne Fesseln, die unter ihrem Kleid hervorblitzen. Ihre Gedanken sind azurblau, und meine gleiten ins Weiß ab. Ins Weiß. Auch damals, als er zum ersten Mal bis tief in die Nacht an ihrer Seite blieb, war das Weiß vom Himmel getropft, die dicke, mürrische Dreißigjährige, die in der gleichen Schicht arbeitete wie Azra, hatte die Tür abgeschlossen, ging schnaufend an den Tischen vorbei, die sie zuvor aufeinandergestapelt hatte, und streifte ihn mit einem prüfenden Blick, als Azra um die Ecke bog, um die weiße Ecke, und die Hände an ihrem Rocksaum abwischte, die weißen Hände am weißen Saum des weißen Rocks, ihre Augen waren dunkel, ihre Schultern schaukelten, als sie ihn auf der niedrigen Mauer erblickte. Sie sah nervös auf die Uhr, als er vorschlug, sie auszuführen, einfach so, ungeplant, sie sah zu ihm und dann wieder auf die Uhr, der weiße Mond ging wie eine Aluminiumplatte über ihrem Kopf auf, es war kurz nach zehn und sie antwortete, dass sie erwartet werde. Er nickte und bot sich an, sie ein Stück zu begleiten. Er log, dass er in derselben Richtung wohne, in die sie gedeutet hatte. Wir gingen durch die Stille der Stadt, die niemals verstummt. Sie erzählte mir von Dörfern, die es nicht mehr gibt. Ich weiß nicht mehr, wie ich nach Hause gekommen bin. Azra meint, sie hat vielleicht morgen Zeit. Als sie die Tür aufschloss, blickte sie über die Schulter, zu ihm, der auf dem Bürgersteig stand und die rechte Hand hob, und in ihrem Blick lag ein Lächeln, ein schelmisches Lächeln, das erste Zeichen von Koketterie, das er an ihr bemerkte. Er wusste, dass er am nächsten Morgen dort sein wird, dass er am Abend dort sein wird, dass er immer dort sein wird wollen, wo sie war. Der Asphalt hat noch nie so unschuldig geglänzt wie heute. Die Sitznachbarn unterhielten sich immer vehementer. Das Mädchen drehte sich zum Fenster und legte die Hände in den Schoß. Sie war offensichtlich wütend. Der Junge sagte etwas, sie schnappte zurück, beinahe laut. Die Röte in ihrem Gesicht vermischte sich mit jener, die ihr die Sonne in die Haut graviert hatte. Es hatte den Anschein, als würde sie jeden Augenblick losbrüllen.
|